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Bauch und Kopf

Ich schiesse Fotografien aus dem Bauch – der Kopf spielt dann im zweiten Schritt beim Sammeln, Ordnen, Gruppieren und Kategorisieren der gesammelten Weltansichten die  konstituierende Rolle.

Ich verfolge in der künstlerischen Gestaltungspraxis eine offene Produktionsästhetik: Eine geplante Selbst- und Werk-Stilisierung als Corporate-Identity Strategie des zeitgenössischen Künstlers interessiert mich nicht, sei dies in formalen oder thematischen Spezialisierungen – auch auf die Gefahr hin als inkonsequent, amateurhaft und unkonzentriert zu wirken. “Style” interessiert mich als Schubladisierungsphänomen – nicht als Schublade selbst, innerhalb deren nach den «Regeln» der Kunst   konsequent produziert werden soll. Ich versuche die «Schubladen» so oft wie möglich zu wechseln – es ist dies ein methodisches Schubladenspiel.

Konzeptuelle Arbeit schliesst dieses Vorgehen innerhalb des Gesamtwerks nicht aus: sie kommt aber erst in einem zweiten Schritt, indem sich bei schon geschossenen Bildern Ideen einstellen. Durch diese “kopflose Fotografie” hat man von vornherein Fehler in einer gezielt offenen Art provoziert. Generell halte ich Fehler auch für die interessantesten Quellen künstlerischen Schaffens.

Diese künstlerische (Un-)Methode findet ihre Fortsetzung in meiner Obsession des Sammelns: dies ist der zweite – bei mir meist arbeitsintensivere Teil der künstlerischen Arbeit: die gesammelten Fotografien in verschiedene Schubladen zu legen, Schubladen zu erfinden, die Bildergruppen wieder auseinanderzunehmen und noch einmal neu und anders zu vereinigen.

Als Fotograf gehöre ich also eher zu den Sammlern als zu den Jägern. Ich interessiere mich sowohl für den leidenschaftlichen “entscheidenden Moment” als auch für die banale “Dokumentation sichtbaren Lebens” wie auch die inszenierende Fotografie – diese differenzierenden Elemente fotografischen Wahrnehmens interessieren mich aber als bildnerische Untersuchung von Schubladisierungsphänomenen (Bildzuordnungssysteme in Kontextualisierungsnormen), nicht als Schubladen selbst.

Entscheidungen bezüglich der Bildauswahl ­– formal-ästhetische Eigenschaften der Bilder bezüglich einer intendierten Kategorisierung­ – treffe ich wieder wie beim Fotografieren mit dem “Bauch”, nicht mit dem Kopf. Fotografien können so von mir im Nachhinein wieder gefunden und entdeckt werden.

“(…) auch indem wir leben, erfinden wir Geschichten, die unser Erlebnismuster ausdrücken, die unsere Erfahrung lesbar machen. Dabei glaube ich, und das ist entscheidend für die Möglichkeit der Darstellung: Erfahrung ist ein Einfall, nicht ein Ergebnis aus Vorfällen. Der Vorfall, ein und derselbe, dient hundert verschiedenen Erfahrungen. (…) Nur die Erfahrung ändert alles, weil sie nicht ein Ergebnis der Geschichte ist, sondern ein Einfall, der die Geschichte ändern muss, um sie auszudrücken.”

 

Max Frisch (Interviewausschnitt aus: Horst Bienek, Werkstattgespräche mit Schriftstellern, 1962)